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Das Unterengadin - ein botanisches Schatzkästlein

Bericht mit Fotos von Joe Meier


Blumenwiese, Foto Joe Meier Wer ab Mitte Juni schon durchs untere Unterengadin und seine Seitentäler streifte, weiss, wovon ich rede. Herrliche Blumenwiesen, Wälder, die viele Schätze bergen. Zieht man mit offenen Augen und gemächlichen Schrittes durch die grossartige Landschaft, ist so viel Schönes zu bestaunen, dass man vor Freude jauchzen könnte.

Ursprung einer Leidenschaft

Jahrzehnte ist es her, als mir die unvergessliche Cathy Vonmoos aus Vnà die Frage stellte: "Haben Sie auch schon Frauenschuhe gesehen?" Sollte ich meine Wissenslücke leugnen? Für Kenner sind die gegen vierzig Orchideenarten im Unterengadin die begehrenswertesten Blumen, die es zu finden gilt. Sie sind mittlerweile denn auch meine Leidenschaft geworden. Einige Blütenpflanzen in dieser Gegend sind endemisch und faszinieren Liebhaber und Botaniker gleichermassen.

1500 Pflanzenarten

Wer auf die Pirsch geht, kann mit einem kleinen Pflanzen Bestimmungsbüchlein bald einmal "anstehen". Hält man sich an die "Flora Helvetica", soll es im Unterengadin gegen 1500 Pflanzenarten geben. Muss es sein, dass ich jede Pflanze mit Namen ansprechen kann? Nein, warum auch? Ich kann mich doch am beobachteten Kunstwerk der Natur erfreuen, ohne den Namen zu wissen. Und vielleicht treffe ich jemanden unterwegs, der mir auf die Sprünge hilft, mir einen vergessenen Artnamen nachliefert. Das führt immer wieder zu tollen Begegnungen.
Zu den Schätzen im Blumenreich gehören zweifelsohne die Schluchten, seien es die Clemgia, die Ardezer Schlucht, die Uina, das Val d'Assa, Val Sinestra oder Val S-Charl. Die Wildbäche stürzen schäumend und tosend ins Tal. Das Wasserspiel über und neben den farbigen Steinen zieht mich in seinen Bann. Die über Jahrmillionen entstandenen, geologisch interessanten Gesteinsformationen beeindrucken, ja begeistern mich. Seltene Pflanzen schmücken den Wegrand.
Hast oder Unruhe stören. Bedächtiges Gehen, Beobachten und Staunen ist angesagt. Zu meiner Freude begleiten mich die buntesten Gaukler, wohin ich auch gehe. Und bin ich morgens früh unterwegs, stimmt mich das Konzert der gefiederten Freunde auf einen guten Tag ein. Am Nachmittag dreht der Adler seine Runden mit der Absicht, ein unvorsichtiges Murmeltier zu erhaschen. So sind meine Tage im Schatzkästlein Unterengadin erfüllt von tausend Eindrücken.

Wo suchen?

Und wo finden wir die kleinen und grossen botanischen Schätze? Offene Sinne sind gefragt! Nirgendwo hat es noch so viele ungedüngte, prächtige und artenreiche Blumenwiesen wie oberhalb von Ramosch/Vnà. Diese reichen bis auf 2000 m.ü.M. hinauf. Um Tausende von Orchideen, das heisst Fingerwurze und Knabenkräuter, sowie viele andere, zu bestaunen, muss man nicht einmal den Wanderweg oder die Fahrstrasse verlassen. Möchte ich die seltensten Blumen betrachten, gehe ich auch ins Val Sinestra, Val Laver, auf die Mot Tavrü oder ins Uinatal. Allerdings ist es mit der Ungestörtheit im Val d'Uina vorbei. Zu oft werden meine Gedanken von keuchenden oder lautlos daher rasenden Bikern massiv gestört, je nachdem in welche Richtung sie unterwegs sind, kann ein Sprung zur Seite lebensrettend sein.
Mit Absicht gehe ich nicht auf einzelne Pflanzen-Standorte ein. Es wäre doch jammerschade, liebe Lesende, wenn ich Ihnen diese auf dem Servierteller präsentieren würde und Ihnen die Freude nähme, die Entdeckung selbst gemacht zu haben.

Im Walde

Suchen Sie das Herz-Zweiblatt, die zierliche und zu den kleinsten Orchideen zählende Schönheit im halbdunklen, moosig-feuchten Wald? Das Grosse Zweiblatt ist so häufig, dass man es nicht übersehen kann. Den Frauenschuh haben Sie sicher schon gefunden; aber wie steht es mit der Variation Goldschuh?

Frauenschuh, Fotos Joe Meier


Grünliche Waldhyazinthe, Foto Joe Meier Der geheimnisvolle Widerbart, eine der rarsten Schätze im Tal, wartet auf Ihren Besuch ab August. Man findet ihn am im Dunkeln gelegenen Wegrand - grösste Vorsicht ist beim Betreten der Moos-Biotope geboten. In der Nähe und im ähnlichen Umfeld gedeiht die feingliederige Moosorchis. So auch die Europäische Korallenwurz und das rare Zarte Einblatt, die wächserne Vogel-Nestwurz; sie blühen allerdings im Juni.
Freude bereiten die Grünliche und Zweiblättrige Waldhyazinthe; letztere feinsten Duft verströmend. Am Waldweg zur Alp Uina Dadora begrüssen mich Hunderte von Braunroten Stendelwurzen, ja sie stehen Spalier.

Zwergorchis, Foto Joe MeierÜber der Waldgrenze
Die Zwergorchis muss man "erdulden"; sie gedeiht in der Regel weit über der Waldgrenze. Meist verträgt sie sich gut mit Edelweissen.
Nicht verpassen kann man, auf gleicher Höhe vorkommend, das Rote und Schwarze Männertreu ihres edlen Duftes wegen. Ist man im Juli auf dem Piz Arina, darf man nicht ins Tal zurück, ohne den Nickenden Steinbrech begrüsst zu haben. Er kommt schweizweit nur in zwei Gebieten vor.

Fliegen-Ragwurz, Foto Joe MeierIm Halbschatten
Das Rote Waldvögelein lässt sich vielerorts am Wegrand bewundern, oft ist es im Halbschatten zu Hause. Und die Langgliederige Stendelwurz kann sich im lichten Wald verstecken oder überraschend am Pfad auftreten, so auch die Breitblättrige Stendelwurz. Nicht selten trifft man dort auch die Grüne Hohlzunge, welche als Spezialistin durchaus auf 2800 m.ü.M. steigen kann, dort aber eigentlich "Rote Hohlzunge" heissen sollte. Als einzige Insektenorchidee im Engadin erfreut uns die Fliegen-Ragwurz am Waldweg oder schattigen Wiesenrand, manchmal neben einem Frauenschuh im Walde.

Im Feuchten

Am Rande der anregenden Sumpfwiesen und Schrägmooren finde ich die Weisse Stendelwurz. Sie blüht in der Gegend zwischen Vnà und Motta oberhalb Ramosch erst, wenn die anderen Orchideen meist abgeblüht sind. Würde in Sursavogn das Ausbringen von Gülle eingestellt, hätten Tausende von Orchideen langfristig gute Überlebenschancen. Im Juni blühen die Fuchs', Breitblättrige, Traunsteiners, Fleischfarbene und Blutrote Fingerwurz im gleichartigen Biotop.

Foto Joe MeierAn praller Sonne
Am sonnigen Strassenbord nehme ich den feinen Geruch der wohlriechenden Handwurz wahr. Und meist gleichen Orts stehen die Gewöhnliche Handwurz und seine Verwandte, die Weissliche Höswurz. Sind wir im gleichen Biotop aufmerksam genug, erkennen wir die zierliche Honigorchis - riecht man daran, fällt es leicht, ihren Namen zu merken. Weil sie so bescheiden ist, wird sie trotz häufigem Auftreten kaum wahrgenommen. Das Angebrannte Knabenkraut ist nicht zu verwechseln und hat den passenden Namen. Und so reiht sich eine Perle an die andere. Wenig habe ich die übrigen Blütenpflanzen genannt. Ich schätze sie nicht geringer ein. Es sind so viele, man würde Bände darüber schreiben können.

Türkenbund, Foto Joe MeierHell wach
Mit offenen Sinnen ist es einfach, die schönsten, seltensten und wunderlichsten Dinge am Wegrand, im und am Bach, im Wald und in den Lüften zu entdecken. Vieles muss hier unerwähnt bleiben.
Gehen Sie ganz einfach auf Tour. Schauen Sie den wunderschönen Juwelen in die "Augen", gehen Sie mit Ihnen auf Du und Du. Ihr aufmerksames Suchen nach diesen Schätzen wird Sie unmerklich leicht und hoch in die Berge hinauf tragen.
Die bescheidene Frage von Cathy Vonmoos hat bewirkt, dass ich 35 Jahre meine Batterien in diesem schönen Gebiet aufladen durfte. Ohne diese Naturerlebnisse im fabelhaften Umfeld hätte ich meine Aufgaben im Berufsleben kaum bewältigen können: Ich wünsche Ihnen, dass Sie die Sinne stetig schärfen und in der Folge nicht nur Geniesser dieser einmaligen Gegend sind, sondern sich auch dafür einsetzen, dass unsere Nachkommen auch weiterhin eine Rückzugsmöglichkeit in das Bio-Reservat Unterengadin haben. Und ihnen damit ein wohltuendes Entfliehen aus der Hektik des Alltages ermöglichen.

Engadinerhaus, Foto Joe Meier
 
Dieser Beitrag von Joe Meier ist in "ALLEGRA" Nr.5 /2006 erschienen, dem "Informations- und Veranstaltungsmagazin Engiadina Bassa, Val Müstair, Samnaun".

Eben - ins Schatzkästlein Unterengadin.


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Aktualisiert 23. 03. 2009

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